Olympische Spiele der Neuzeit |
Paris 1900
Dankbarkeit ist eine der edelsten Eigenschaften in dem Spiegelbild menschlicher Charakteristik. Die Idee der sportlich-heroischen Kämpfe wäre unvollkommen ohne den Ausgleich in dem gefühlserfüllten Bereich der Seele. Das tiefe Erlebnis der Olympischen Spiele zu Athen war unverlöschbar eingegraben in das Denken der Teilnehmer. Es wirkte aus innerer Kraft auf die Gestaltung der Zukunft.
Pierre de Coubertin, Franzose, war der Vorkämpfer gewesen, folglich konnte nur Paris nach dem Gesetz der Ritterlichkeit Schauplatz der 2. Olympischen Spiele der Neuzeit sein. Paris, dessen faszinierende Glorie noch strahlend verstärkt schien durch das Schauspiel einer Weltausstellung, war berufen, das Erbe Athens anzutreten. In den Köpfen der kühnen Träumer malten sich die phantastischen Möglichkeiten, die aus einer Verbindung dieser großen Quellströme im Leben der Völker emporwachsen mussten. Paris jedoch erfüllte die hochgesteckten Erwartungen nicht. Die äußeren und inneren Gegebenheiten schlossen das Gelingen aus. Der Sport besaß noch nicht die wirtschaftliche Kraft, um so gewaltige Anlagen zu schaffen, die für den äußeren Rahmen eine Notwendigkeit waren. Auf den verschiedenen Wettkampfstätten zersplitterte sich unter einer schwerfälligen Abwicklung das sportliche Geschehen. Der Besucherstrom der Weltausstellung und das Weltstadtbürgertum von Paris empfanden kein inneres Verhältnis zum Sport. In der großstädtischen Perspektive von 1900 rangierte die sportliche Betätigung unter den leichten Sonderheiten, die außerhalb des Gesichtskreises des normalen Menschen standen.
Das äußere Bild berührte jedoch nicht den Kern der Zukunft. Der Fortschritt der sportlichen Entwicklung war deutlich und unverkennbar. Die technische Ausarbeitung der verschiedenen Übungen hatte in vier Jahren in aller Stille eine ungemeine Steigerung erfahren. Sinngemäße und durchdachte Arbeit hatte überall Wurzel gefasst und ruckweise schnellte die Rekordziffer auf Leistungen, die nicht mehr nur aus dem Zufall und einer glücklichen Begabung zu meistern waren.
Wie aus der Erde gestampft traten aus der Masse der Kämpfer die Konturen wahrhaft olympischer Gestalten hervor. Eine lächerliche kleine Zuschauermenge von vielleicht 2000 Personen wurde Zeuge großer olympischer Leistungen, deren echte Würdigung erst die Nachwelt vornehmen sollte. Das Schicksal hatte diese modernen Sportpioniere zwei Jahrzehnte zu früh auf die Welt gestellt.
In dem Deutsch-Amerikaner Alvin K r a e n z l e i n hatte die Natur erstmalig die verschwenderische Fülle ihrer Spannkraft summiert, um sie in einem vierfachen Sieg ausspielen zu lassen. 60 Meter, 110 Meter und 200 Meter Hürden sowie der Weitsprung waren die leichtathletischen Disziplinen, die von Kraenzlein gewonnen wurden. 1913 begann er in Deutschland als Sportlehrer zu wirken, bevor der 1. Weltkrieg seine Tätigkeit beendete. Eine einzigartige Erscheinung war der Amerikaner Ray E w r y, der "Paavo Nurmi" unter den Springern. In seinen Beinmuskeln steckte phänomenale Schnellkraft, die sich bei den Sprüngen aus dem Stand, die damals noch im olympischen Programm vorhanden waren, auswirkte. In vier Olympischen Spielen von 1900 bis 1908 ersprang er sich 10 Siege. Diese Zahl ist imponierend und bis heute unerreicht, aber es ruht auf diesen olympischen Leistungen nicht das Gewicht sonstiger olympischer Triumphe. Die Gleichartigkeit der Übungen war zu groß, ihr Eindruck nicht nachhaltig genug, um ihren Träger in die Schar der Erlesenen einzureihen. Noch ein Name mag aus dem Dunkel hervortreten. Der Sieger über 400m in 49,4s M.W. Long. An ihn knüpfte sich später erstmalig das ungläubige Staunen, das die alte Welt den amerikanischen Nachrichten erreichter Leistungsgrenzen entgegenbrachte. Auf einer geraden 400-Meter-Bahn legte er die Strecke in 47 Sekunden zurück. Erst mehr als drei Jahrzehnte später schwand von einer solchen Lesitung der trügerische Schein.
Die Ausrichtung der Kämpfe in Paris war kein Ehrenblatt der damaligen französischen Sportverbände. Eine unglaubliche Platzanlage, eine mangelhafte Vorsorge für die Kämpfer fand ihren Abschluss in einer Preisverteilung, die mehr Bitterkeit als Freude bereitete. Die Distanz der Zeit hat über diese Angelegenheit einen humoristischen Schimmer gebreitet. Damals wurden Olympiasieger mit Regenschirmen und Spazierstöcken aus einem billigen Bazar als bleibende Erinnerung bedacht. Zeit und Menschensinn werden ihren Wert vergoldet haben.
In Paris 1900 fand weder eine offizielle Eröffnungs- noch Schlussfeier statt. 1227 Teilnehmer, darunter 21 Damen, aus 26 verschiedenen Ländern waren bei den 2. Olympischen Spielen der Neuzeit im sportlichen Wettkampf. Es wurden 87 Wettbewerbe bei 19 Sportarten durchgeführt.